Der kleine Emil und der Mercy - haben Autos eine Seele?


Meine Eltern haben 1964 einen schwarzen Mercedes 170 gekauft, es war noch ein Vorkriegsmodell.Meine Eltern haben 1964 einen schwarzen Mercedes 170 gekauft, es war noch ein Vorkriegsmodell.

Heute erzähle ich euch die Geschichte unseres liebsten Familienautos.
Meine Eltern haben 1964 einen schwarzen Mercedes 170 gekauft, es war noch ein Vorkriegsmodell. Er hatte Platz ohne Ende, einen starken Motor und riesige, sehr bequeme Sitze. Leider war es immer schwierig, den Motor zu starten - wenn er aber lief, hat er uns nie im Stich gelassen. Bei einem so großen, schweren Auto mussten die Bremsen immer Schwerstarbeit leisten, dabei waren es nur kleine, zu schwach konzipierte Trommelbremsen - meistens funktionierten sie eh nicht. Den Benzingeruch im Auto haben wir auch stets kostenlos genossen. Die Schläuche waren irgendwo immer undicht.
Und doch liebten wir unseren Mercy. Liebevoll wurde er jeden Sonntag mit viel Wasser und Seife gewaschen, gehegt und gepflegt. Er war unser ganzer Stolz. Und er liebte uns. Man hatte in ihm stets das Gefühl der Geborgenheit, der Zuverlässigkeit. Man spürte förmlich seine Gedanken: “Macht Euch keine Sorgen, mein Motor bringt Euch sicher zum Ziel, meine Karosserie ist stark und beschützt Euch im Notfall!“ Ob Autos eine Seele haben? Ja, unseres hatte eine - das spürten wir in jedem Augenblick.

Er hatte noch die Lenkradschaltung, rechts neben dem riesengroßen Lenkrad. So hatte ich Platz genug, stehend eingeklemmt zwischen Mutti und Vati am Verkehr aktiv teil zu nehmen. Meine Nasenspitze ragte gerade über den Bord hinaus. Meine Aufgabe war es zu erkennen, ob die uns entgegenkommenden Autos, mit Abblend- oder Fernlicht fuhren. Und ich nahm meine Aufgabe sehr ernst. „Vati, der kommt mit Abblendlicht, ich schalte jetzt das Fernlicht um, auf Abblendlicht!“ Ich betätigte den weißen Bakelit-Schalter: „So, jetzt fahren wir auch mit Abblendlicht!“ Sobald das Auto vorbei war, schaltete ich wieder zurück auf Fernlicht. Unser Mercy hatte zwei sehr große, starke Scheinwerfer, damit konnte man auch bei Nacht sehr gut sehen.

Ich kann mich noch sehr gut an eine Fahrt nach Herkulesbad erinnern. Sie dauerte ewig, da der alte Mercedes ja nicht mehr so schnell fahren konnte. Schnell fahren war auch wegen der schlechten Bremsen nicht ratsam. So waren die meisten Reisen sehr zeitintensiv. Mein Vater musste stets mit der Motorbremse arbeiten, aber wegen der großen Übersetzung, war es auch damit kaum möglich, den schweren Wagen zu stoppen. Deshalb hatte meine Mutti im Fußraum stets einen großen Stein liegen und wenn der Mercy schon ganz langsam fuhr, sprang Sie heraus und warf den Stein vor das Rad. So kam das Auto dann zum Stehen. Ja, und weil die Fahrt so lange war, haben meine Schwester und ich hinten auf dem Sitz rumgespielt. Tagsüber konnte ich hinten entspannen, denn ich musste ja nicht den Lichtschalter betätigen - hahaha.
Und während wir auf dem Sitz rumsprangen und mit einem Ball spielten, sah ich im Rückfenster ein Motorrad mit Beiwagen hinter uns herfahren. Der Motorradfahrer winkte uns zu und wir winkten fröhlich zurück. Je öfter ich zu ihm hinsah, desto mehr erkannte ich, dass sein hektisches Winken einen ganz anderen Sinn hatte, als uns zu belustigen. Er deutete stets mit einer Hand zum linken Hinterrad.
Also guckte ich links hinten aus meinem Fenster und siehe da, unser Hinterrad rollte fast gänzlich neben uns her - das habe ich so noch nie gesehen. „Vati, schau mal, unser Hinterrad läuft neben uns her - das will uns überholen!“
Mein Vater kurbelte das Fenster runter - einen Seitenspiegel hatte unser alter Mercy ja nicht und schaute nach hinten raus. Noch heute sehe ich sein kreidebleiches Gesicht. Er zog sofort soweit wie möglich nach rechts und begann mit dem unsäglichen Bremsmanöver. Die Motorbremse half noch dazu und nach einer halben Ewigkeit konnte Mutti endlich rausspringen, und den Stein vor das Rad werfen. Der Mercy stand. Als wir ausstiegen und uns das Phänomen betrachteten, brach das Rad endgültig aus der letzten Halteschraube und unser Auto stand schief da. Das Rad hatte bis zur letzten Umdrehung gehalten, dann erst ist es von der Nabe gefallen. Angst nein, Angst hatten wir keine. Unser Mercy wird uns schon heil zum Ziel bringen. Daran hatten wir keinen Zweifel. Er hat das Rad festgehalten, bis wir in Sicherheit waren. Ja, unser Mercy - unser Schutzengel.

Gut in Erinnerung habe ich auch eine Fahrt nach Billed. Wir fuhren zu Lissi-Tante und Adam-Onkel. Zwischen dem alten Feldflugplatz und Kleinbetschkerek wurde die Fahrbahn neu asphaltiert. Rechts daneben hatten die Bauarbeiter größere Kieshaufen so ca. alle 10 bis 15 Meter aufgetürmt. Und gerade hier, mitten in dieser Baustelle bemerkte Vati, dass die Beifahrertür nicht gut geschlossen war. „Schließ die Tür richtig, nicht dass diese noch aufgeht und so gegen einen Steinhaufen schlägt!“ sagte er noch zu Mutti, die versuchte sie zu schließen, aber die große schwere Tür gab nur ungern nach und so schaffte sie es nicht, bei voller Fahrt. Vati hielt sich mit der linken Hand am Lenkrad fest und beugte sich zu Mutti rüber. Gemeinsam zogen sie an der schweren Tür und siehe da, die Tür war zu - geschafft. Jetzt konnte nichts mehr passieren. Aber schon wurde Vati wieder kreidebleich - denn plötzlich hatte er das lose Lenkrad in der Hand. Dieses war aus der Halterung gebrochen. Unser Mercy war schlagartig ohne Lenkung und fassungslos schauten sich die beiden an. Vati begann mal wieder mit dem unendlichen Bremsmanöver, mehr konnte er ja in dem Fall nicht tun - ein Lenken war schließlich nicht mehr möglich. Der Mercy fuhr selbstständig ganz nach rechts, verließ die Fahrbahn und steuerte auf einen Steinhaufen zu. Kurz davor umfuhr er diesen links und rollte dem nächsten entgegen. Diesen umfuhr er rechts und schon folgte ein weiterer. Wie im Slalom umfuhr er drei Hürden und blieb dann endgültig vor dem vierten Haufen stehen. Wir schauten uns an. Was bitte war das? Wieso ist unser Auto allen Steinhaufen ausgewichen? Gibt es solche Wunder? Wie war das möglich? So vielen Leuten wir diese Geschichte auch erzählten, keiner wusste dieses Phänomen einzuordnen. Und doch ist es genauso geschehen.
Ich wusste es besser. Ich streichelte den Kotflügel unseres Wagens und flüsterte ihm zu: “Danke Mercy, Du beschützt uns. Mit Dir kann uns nichts geschehen!“ Und er wärmte meine Hand, ich konnte ihn so richtig spüren. Ein Schutzengel und ein guter Freund. Unser Mercy. Vieles haben wir noch mit ihm erlebt - stets ging alles gut aus. Wie eine treue Seele war er immer für uns da. Aber irgendwann ...

„Nein Vati, bitte verkauf unseren Mercy nicht. Er ist doch so ein gutes Auto!“ Dicke Tränen standen in meinen Augen. Doch sein Entschluss war bereits gefallen. Vati machte sich letztendlich doch zu große Sorgen um unsere Sicherheit. Und er suchte nach einem Käufer, denn die Schulden für das Auto mussten auch so schnell wie möglich zurückbezahlt werden. Herr Ibrahimowich hatte für das Darlehen 19% Zinsen verlangt - eine Tilgung auf Raten hatte er abgelehnt. Eine rasche Rückzahlung musste irgendwie ermöglicht werden.
Und wieder mal wollte der Mercy nicht anspringen. Vati bastelte am Motor herum, als plötzlich der Kühler unerwartet ansprang und der offene Propeller ihm ein Glied des rechten Zeigefingers abschnitt. Alles voller Blut und wir standen wie angewurzelt da. Vati umwickelte seinen Finger sofort mit einem Tuch und da der Motor nun mal lief, fuhr er schnell ins nächste Krankenhaus und ließ sich verarzten.
Natürlich weinte ich um meinen Vati, natürlich bedauerte ich seinen abgeschnittenen Finger und seine Schmerzen. Aber irgendwie dachte ich - vielleicht hat der Mercy mitbekommen, dass er verkauft werden sollte und hat sich damit ein klein wenig gerächt? Konnte unser Mercy spüren, was um ihn herum passiert? Hatte er kurz vor seinem Verkauf, seine Liebe zu uns verloren?

Durch den lädierten rechten Zeigefinger war Vati in seiner Arbeit als Goldschmied schon recht stark beeinträchtigt.
Zum Glück hatte er zwei Wochen zuvor, bei einem Versicherungsagenten eine Police unterschrieben. Dieser wollte gar nicht glauben, dass er jetzt schon, nach so kurzer Zeit bereits eine hohe Summe an meinen Vater auszahlen musste. Er überprüfte alles sehr akribisch - alles war in Ordnung und die Versicherung musste für seine Berufsbeeinträchtigung aufkommen.
„Ja, Herr Knöbl, es ist alles Rechtens, Sie hatten ja ein unglaubliches Glück. Erst musste ich Sie wochenlang überreden eine Versicherung abzuschließen und kaum haben Sie unterschrieben, ist schon ein Schadensfall eingetreten. Wir bezahlen Ihnen die Summe. Nur ersuche ich Sie, mir ein klein wenig zu helfen. Ich überreiche Ihnen das Geld in der Öffentlichkeit, die Leute sollen sehen, dass sich eine Versicherung lohnt. So kann ich neue Kunden gewinnen und auch ein wenig davon profitieren. Wir machen die Übergabe im Capitol Kino.“

Und so war es dann auch. Es lief ein guter Film, das Kino war voll - ausverkauft. Bevor der Film startete sind der Versicherungsagent und mein Vati auf die Bühne und die unglaubliche Summe von 25.000 Lei wurde unter großem Trommelwirbel meinem Vater übergeben.
Das war echt viel Geld. Sehr viel Geld. Meine Eltern konnten Herrn Ibrahimowitch ausbezahlen - und es blieb sogar noch Geld übrig, um einen neuen Moskwitch zu kaufen. Mit ordentlichen Bremsen, funktionierendem Motor und festem Lenkrad.
Ein schönes Auto. Ein gutes Auto.
Aber auch mit Seele? Wir werden sehen.

Aber erstmal kreisten meine Gedanken nur um den Mercy.
War es Fügung, dass er meinen Vater verletzte? War es Absicht? Wollte er uns vor seinem Abschied noch etwas Gutes tun? Hat er uns in seinen letzten Tagen nochmal so kräftig helfen wollen? Hat er uns so geliebt?
Ich werde unseren Mercedes nie vergessen. Er war uns ein treuer und lieber Begleiter und Beschützer - unser Mercy. Nie wieder habe ich ein Auto so geliebt.
Er wurde vom Filmstudio Bukarest aufgekauft. Da durfte er noch in manchem Film mitmachen und viel Aufregendes erleben. Irgendwann haben wir ihn aus den Augen verloren und er hat vielleicht seine ihn liebende Familie aus Temeswar schon längst vergessen. Hat er eine neue liebe Familie gefunden?
Lebt er noch? Geht es ihm gut? Denkt er noch manchmal an uns zurück? Ich schon!

Lektorat: Werner Tobias


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